Klassische Literatur
Sommerhaus, später
Hermann, Judith
Fischer, S. Verlag GmbH , 2023

2023 feiern wir 25 Jahre ‘Sommerhaus, später’
Dieses Buch hat Generationen von Leser*innen geprägt
Im September 1998 erschien in der Collection S. Fischer ein Buch, das die literarische Landschaft verändert hat: ‘Sommerhaus, später’. Erzählungen wie ‘Rote Korallen’ und ‘Hunter-Thompson-Musik’ haben eine ganze Generation von Leser*innen geprägt und über Jahre begleitet.
Marcel ReichRanicki erkannte, dass wir eine neue hervorragende Autorin bekommen haben, und sagte ihr großen Erfolg voraus; Hellmuth Karasek sprach von dem ‘Sound einer neuen Generation’. Das ‘Fräuleinwunder’ war geboren. Von solchen Zuschreibungen hat sich das Buch emanzipiert, es ist zu einer Ikone geworden. Die Geschichten aus ‘Sommerhaus, später’ sind Schullektüre und wurden verfilmt. Die Erzählungen haben Leser*innen in der ganzen Welt begeistert. Die Dichte und Intensität der Stimmungen treffen auch heute noch unser Lebensgefühl.
Autor:in
Florian Illies über das Buch >
Rauchen und schweigen. Wer Judith Hermann liest, taucht in den Nebel ihrer Welt.
Vergessen wir kurz, was »später« noch geschah, also alles, was wir inzwischen von ihr kennen, zum Beispiel, um beim jüngsten Buch anzufangen, die soghafte Selbsterkundung Wir hätten uns alles gesagt, und tun wir so, als wüssten wir nicht, dass die Autorin selbst längst an der Nordsee lebt und dem Meer und der wellenhaften Sehnsucht mit Daheim einen wunderbar fließenden Roman gewidmet hat.
Ja, und ignorieren wir, dass sie in ihren Bänden Nichts als Gespenster, Alice und Lettipark ihre Meisterschaft verfeinert hat, die Figuren ihrer Kurzgeschichten aus dem Nichts heranschweben und sie dann in die Nebel fortschweben zu lassen, und versuchen wir auch noch, was schwerfällt, nicht an den Roman Aller Liebe Anfang zu denken und nicht an die ungeheure Erregung, die es einst gab um sie, als sie aus der Traumversunkenheit ihres Pelzkragens heraus die literarische Bühne betrat.
Und tun wir schließlich auch so, als wüssten wir nichts von all ihren großen Auszeichnungen, dem Kleist-Preis, dem Hölderlin-Preis und gerade erst dem Raabe-Preis. Versetzen wir uns innerlich also am Ende des aufwühlenden Jahres 2023 noch einmal zurück in den Urzustand des dämmrigen Jahres 1998, als Sommerhaus, später erschien, und lesen noch einmal die Erzählungen von Judith Hermann, dann sind wir schon nach wenigen Sätzen wieder von jenem einzigartigen Zauber ihrer Sprache umfangen: Wie sie da durch ein seltsames Berlin gleitet und schweigt und raucht und schaut, nein, Verzeihung, wir wollen den alten Fehler nicht wieder machen. Wenn nicht Judith Hermann, sondern die Figuren ihrer Erzählungen durch die Gegenwart gleiten und schweigen und rauchen und schauen, dann entfaltet sich sofort wieder der wundervolle Nebel, den Judith Hermann so unnachahmlich über die Welt legen kann.
Wie Traumgestalten sieht man manchmal eine Figur auftauchen, eine andere verschwinden, es wird wenig gesprochen, denn »die Tage waren still und wie unter dem Wasser«. Es gibt in diesen kunstvollen und lakonischen Erzäh- lungen aus dem orientierungslosen Berlin der späten Neunzigerjahre, in denen es so sehr um die Sehnsucht nach Liebe oder wenigstens nach irgendwelchen Emotionen geht, im Grunde keine einzige Liebesszene, kaum einen Kuss, die Worte selbst tragen all das in sich.
Judith Hermanns Prosa hat alle Sinnlichkeit auf sich gezogen. Ja, Judith Hermann hat eine unsagbar genaue und neue Sprache für das Un- sagbare gefunden. Sie hat uns noch lange nicht alles gesagt.