Literatur
Cevdet und seine Söhne
Pamuk, Orhan
Carl Hanser Verlag GmbH & Co.KG , 2011
Istanbul im Jahr 1905: Cevdet fährt mit der Kutsche kreuz und quer durch die Stadt und wird mit verschiedenen Konfessionen, Nationalitäten, Weltanschauungen und sozialen Verhältnissen konfrontiert. Er versucht, sich über seine Identität und über seine Zukunft klar zu werden. Dreißig Jahre später stehen Cevdets drei Kinder im Mittelpunkt, für die sich alles verändert hat: die Zeitrechnung, die Kleidung, die Schrift, die Gesellschaft, das ganze politische System. Eindringlich und stimmungsvoll schildert Pamuk in seinem großen Familienepos Aufstieg und Fall einer Dynastie. Orhan Pamuk führt in seinem Debüt-Roman durch drei Generationen einer Familie und zeichnet zugleich den Weg der Türkei in die Moderne.
Peter Neumann über das Buch >
Die Sehnsucht nach Europa leuchtet in Orhan Pamuks Roman sehr hell
Man kann sich nicht vorstellen, dass er sich dafür schämte. Für diesen Roman, den er mit 22 Jahren begann. Es war das Debüt des späteren Literatur-Nobelpreisträgers Orhan Pamuk. Und wer Cevdet und seine Söhne heute liest, ist einfach nur dankbar, dass diese türkischen Buddenbrooks nicht in der Versenkung verschwanden, sondern noch so hell und klar über den Aufbruch aus dem Osmanischen Reich erzählen. Drei Generationen, in denen die Suche nach einer Identität zwischen Orient und Okzident immer wieder von Neuem beginnt.
Da ist Cevdet, der an einem heißen Sommertag des Jahres 1905 mit seiner Kutsche kreuz und quer durch Istanbul fährt. Das Gefährt ist bloß gemietet, weil Cevdet heiraten will. Seine Verlobte Nigân hat er zwar erst zweimal gesehen, aber das ist egal, schließlich kommt sie aus einer angesehenen Pascha-Familie mit Kontakten zum Sultan, und Ansehen ist Cevdet wichtig. Im Gegensatz zu seinem nervösen, sterbenskranken Bruder, der voller revolutionärer Ideen steckt, will Cevdet von den neuen Zeiten nichts wissen.
Er will hoch hinaus, er will mehr sein, ein echter Kaufmann. So wie in Europa. Nur dass Europa für einen türkischen Geschäftsmann, einen Muslim mit Fes, in unerreichbarer Ferne liegt. Und auch die politischen Systeme beginnen sich zu ändern. Der Sultan ist soeben bei einem Attentat beinahe ums Leben gekommen. Überall gärt es, alles ruft nach Reformen und Modernisierung. »Ich bin eben anders als die anderen«, lautet das Mantra, das Cevdet sich immer wieder vorsagt: »Ich habe gearbeitet. Ständig gearbeitet, ohne an etwas anderes zu denken, mit nichts anderem im Sinn als Vergrößerung meines Geschäfts. […] Und der Erfolg hat mir recht gegeben.«
In der inneren Rede seiner Figuren fängt Pamuk die Widersprüche und Abgründe ihrer Träume ein. Was nach außen gesagt wird, ist eigentlich fast nie die Wahrheit, sondern nur Wille und Schein. Nicht von ungefähr führt »Lampen-Cevdet« ein Geschäft für Glühbirnen und nennt sich nach Einführung der Familiennamen in der Türkei in den Dreißigerjahren offiziell Işıkçı – »der Beleuchter«. Lampen, das bedeutet Licht, Aufklärung, Fortschritt; sie stehen auch für die Blendungen, die das Leben im fernen Europa mit sich bringt. Und so irren auch Pamuks Figuren durch die politischen Systemwechsel der Geschichte.
Cevdet und seine Söhne erzählt vom Wunsch, aufzubrechen, alles hinter sich zu lassen, und davon, in den eigenen Prägungen, Heimaten, der alten Haut stecken zu bleiben. Dreißig Jahre später sind es Cevdets drei Kinder Osman, Refik und Ayşe, die in der neuen Türkischen Republik unter Kemal Atatürk auf der Suche nach Glück sind und sich abermals verrennen. Der Lampenladen ist inzwischen ein Import-Export-Geschäft. Jetzt ist Cevdet der Patriarch, der sich bei Familienbesuchen traditionell die Hand küssen lässt: »Da wollte ich eine europäische Familie gründen, und doch ist alles türkisch geworden.«
Der Traum von Europa ist immer noch da. Die Jungen wollen Ingenieure, Dichter und Reformer werden. Sie wollen als Künstler und Sinnsuchende ernst genommen werden und Erfolg haben. Und auch die Fallstricke zwischen der Türkei und Europa liegen für die Nachfolger bereit. Abschrecken vom eigenen Unglück tut das niemanden. Und so erzählt Orhan Pamuk die Geschichte eines familiären Niedergangs, in der die Hoffnung auf ein wahrhaftiges Leben nur umso heller strahlt.